Bezirk
de

Gut ist besser als perfekt

Juli 26, 2022

„Mach es einfach so gut du kannst!“  oder: „Mach es so gut wie möglich!“ Das klingt entspannend. Aber das ist es gar nicht, denn man könnte immer alles noch besser, schöner und schneller erledigen. Ich will doch zeigen, dass ich es gut kann oder sogar noch besser als die anderen! Es liegt im Trend, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu erledigen, täglich die langen To-do-Listen abzuarbeiten, um erfolgreich zu sein. Oft gilt: „Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen“.  Und schon sind wir gefangen im Perfektionismus. Wie zeigt er sich, was sind seine Folgen und welches sind die Auswege? Genau darum ging es im Referat von der Ärztin Doris Schneider-Bühler im Frauentreff der EMK Turbenthal vom 18. Mai. Mit 20 anderen Frauen folgte ich interessiert ihren Ausführungen. Die Tische waren mit Servietten, Blumensträusschen und Schoggikugeln liebevoll dekoriert und wir durften zuerst feine Gipfeli,  Kaffee und andere Getränke geniessen.

Was steckt hinter dem Perfektionismus?
Dahinter steckt die Angst, nicht zu genügen, die Kontrolle zu verlieren, abgelehnt zu werden oder bei einem Fehler als Versager dazustehen. Es geht auch um die Angst, alles zu verderben oder dem Vergleich mit anderen nicht standhalten zu können. Der Perfektionismus zeigt sich darin, dass Aufgaben zum Zeitfresser werden, negative Kritik kaum ertragen wird, Spontaneität kaum möglich ist und der Fokus meist auf Fehlern, Schwächen und Negativem liegt. Ein Perfektionist schafft es fast nicht, zu sagen: „Das hast du gut gemacht“, weil er immer noch etwas sieht, was man besser machen könnte. Er will sich selber und andere dauernd korrigieren. Wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt, gibt der Perfektionist zu schnell auf. Er vermeidet es, zu versagen, indem er es gar nicht erst probiert. Es fällt ihm schwer, sich auf etwas Neues einzulassen oder seinen Plan zu ändern. Oft weicht er Entscheidungen aus, weil er sich ja falsch entscheiden könnte und er kann nicht delegieren, weil „die anderen es nicht richtig machen würden“. Eine perfekte Mutter hat die Tendenz, sich zu beklagen, dass man ihr nicht hilft. Aber man kann es ihr nicht recht machen. So werden Menschen entmutigt, wenn man ihnen alles genau vorschreiben will.

Seine Folgen
Der Perfektionismus hat zur Folge, dass es kaum möglich ist, zu entspannen und abzuschalten. Die Arbeit ist nie fertig, man kann sich kaum am Erfolg freuen. Daraus ergibt sich ein hoher Stresspegel und die Gefahr für Stresskrankheiten. Man sieht vor allem die Fehler und Mängel bei sich und anderen und bekommt ein „Alles-oder-Nichts-Denken“: Wenn die Perfektion nicht erreicht werden kann, gebe ich auf und verpasse dadurch viele Möglichkeiten im Leben. Kurz gesagt: Der Perfektionismus zerstört die Gesundheit, Beziehungen und Lebenszufriedenheit.
Ist der Perfektionismus denn immer schlecht? Etwas „so gut wie möglich“ zu machen, ist manchmal wichtig und sinnvoll, aber nur in einzelnen Bereichen. Zum Beispiel putzt das Putzteam im Spital den Operationstisch anders als den Boden der Cafeteria. Ich muss mir überlegen: Wo ist es mir ganz wichtig? Da will ich es perfekt haben, aber dafür investiere ich auch viel mehr Zeit. Genauso überlege ich mir, wo ich es bewusst gelassener nehmen kann. Wenn ich Gäste empfange und es ganz perfekt mache, habe ich gar keine Lust mehr, Gäste einzuladen. Will ich ihnen meine Kochkunst vorführen oder zusammen die Gemeinschaft geniessen?

Wege aus dem Perfektionismus
Wenn ich gestresst bin, kann ich innehalten, zur Ruhe kommen und überlegen: Wie viel Perfektion ist dieser Situation angemessen? Ich kann mir die Kosten meines Perfektionismus klar machen und manchmal „fünf grad sein lassen“ – und dabei merken, dass die Welt nicht untergeht! Es ist wichtig, dass ich auf Erfolge schaue und nicht auf Fehler. Die Erfolge sollen gefeiert werden, auch kleine. Ein guter Tipp ist die Pareto-Regel: Mit 20% Aufwand erreiche ich 80% Ertrag. Dieses Resultat entspricht schon der Note 5. Wenn ich 100% will, muss ich noch 80% mehr Zeit und Kraft investieren. Gut ist gut genug!  So kann ich mit weniger Aufwand viel Zeit sparen. Prioritäten setzen gehört auch dazu: Was ist mir wichtig? Wofür will ich meine Energie ausgeben? Was sind meine Ziele und wo will ich ankommen? Auf welches Leben will ich zurückschauen? Bewusst erledige ich dann das Wichtigste zuerst und immer eines nach dem anderen.
Oft fängt der Perfektionismus in den Gedanken an: „Du musst, du solltest…“ Meine Gedanken kann ich prüfen und mir bewusst werden: Worte und Gedanken haben Kraft! Es gilt das Prinzip von Saat und Ernte: Samen sind klein und kaum voneinander zu unterscheiden: Erst die Frucht bringt ans Licht, welcher Same gesät wurde. Unsere Gedanken sind wie Samen: Unscheinbar klein, aber sie gehen auf und wachsen. Die Früchte unserer Gedanken werden sichtbar, früher oder später! Die Frucht entspricht dem, was wir gesät haben. Wenn ich darüber nachdenke, was alles nicht gut ist, wird die Situation immer schlimmer. Lieber schaue ich auf das, was gut ist. Dankbarkeit ist der Schlüssel dazu und kommt übrigens in der Bibel sehr oft vor.
Am Beispiel von Jesus kann ich lernen: Er hat sich voll konzentriert auf das, was seine Aufgabe war, obwohl die Erwartungen seiner Freunde ganz anders aussahen. Von 33 Lebensjahren hat er drei Jahre „effektiv“ genutzt und die meiste Zeit davon in wenige „unwichtige“ Leute investiert. Immer wieder hat er sich in die Stille zurückgezogen. Barmherzigkeit war ihm ganz wichtig, und sie hilft auch gegen Perfektionismus. Er sagte: „Wenn jemand barmherzig ist, so ist mir das lieber als irgendwelche Opfer und Gaben“ (Matthäus 9,13) und: „Glücklich sind, die Barmherzigkeit üben, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren“ (Matthäus 5,7).
Für Perfektionisten können folgende Worte eine Entlastung sein: Ich darf Fehler machen. Aus Fehlern kann ich lernen. Ich muss nicht alles können und ich bin wertvoll, auch wenn mir nicht alles gelingt. Gut ist gut genug! 80% statt 100% gibt mir viel Zeit und Gelassenheit zurück. Und zu guter Letzt: Mach es nicht so gut wie möglich, sondern so gut wie nötig!

Ruth Bättig-Wahlen, Frauentreff Turbenthal